Zwei Jahre nach dem 7. Oktober 2023 stehen wir wieder vor einer Zahl, vor Bildern, vor einer Narbe, die nicht verheilt. Der Jahrestag ist kein Datum fürs Archiv, sondern eine laufende Prüfung: Was haben wir gelernt, was haben wir verdrängt, was sind wir bereit zu schützen?
Am Morgen des 7. Oktober verübte Hamas einen beispiellosen Terrorangriff auf Israel: rund 1.200 Ermordete, Hunderte Verschleppte. Dieses Faktum ist nicht umstritten – und es ist der dunkle Anfang der Kaskade, die folgte. Israel begann den Krieg gegen Hamas; seither reißen die Debatten um Verantwortungen, Verhältnismäßigkeit, Recht und Ethik nicht ab. Noch heute werden Dutzende Geiseln in Gaza geführt; offizielle Stellen nennen aktuell 48 Verbliebene (ein Teil davon vermutlich tot). Für die Angehörigen ist jeder Jahrestag eine weitere Nacht ohne Antwort. (Encyclopedia Britannica)
Der Krieg hat die Region, und mit ihr auch uns, auf eine neue Temperatur erhitzt. Neben den politischen Linien (Koalitionen, Strafverfahren, UN-Beschlüsse) brennt vor allem die menschliche Bilanz: zerstörte Städte, Hunger, Traumata auf beiden Seiten. Man muss zwei Dinge gleichzeitig halten können, ohne in Parolen zu flüchten: die Realität des Massakers vom 7. Oktober – und die Realität einer humanitären Katastrophe in Gaza. Wer eines löscht, verrät das andere. (Das ist schwer. Es ist trotzdem nötig.)
Der Blick nach vorn: Was taugt der neue „Trump-Plan“?
Seit Tagen verdichten sich die Berichte: indirekte Gespräche zwischen Israel und Hamas in Scharm el-Scheich; vermittelt von den USA, Ägypten und Katar. Der Auslöser ist ein von Präsident Trump vorgelegter Vorschlag – teils als „20-Punkte-Plan“ beschrieben –, der in Phase 1 einen Waffenstillstand, die Freilassung der Geiseln und einen massiven humanitären Zugang vorsieht. Beide Seiten haben – so die Berichte – grundsätzlich signalisiert, auf dieser Basis zu reden. Das ist kein Frieden. Aber es ist ein Fenster. (Reuters)
Was unterscheidet das jetzige Papier von früheren Entwürfen? Erstens die Dringlichkeit: Die Geiselfrage wird nach vorne gezogen, mit klaren Zeitschnitten und Austauschmechanismen. Zweitens die Verknüpfung von Pause und Lieferkorridoren (Nahrung, Medizin, Wiederaufbau-Vorbereitung). Drittens – und hier wird es heikel – die Bedingungen im Hintergrund: Abzugsszenarien, Entwaffnung und die Frage, wer Gaza danach verwaltet. Genau hier sind die Gräben tief: Israel spricht von „Sicherheitsnotwendigkeiten“; Hamas will Garantien gegen einen Dauerzustand der Kontrolle. Skepsis bleibt – und sie ist gesund. (Reuters)
Zur Einordnung hilft ein Blick zurück: Der „Peace to Prosperity“-Plan (2020) aus Trumps erster Amtszeit war ein großflächiges Architekturpapier (Grenzen, Sicherheitsregime, Investitionspaket) und galt vielen Palästinensern als einseitig. Der neue Ansatz wirkt schmaler, operativer: Feuerpause, Geiseln, Hilfe – jetzt; Governance-Fragen werden nicht geleugnet, aber nicht mehr vorab zementiert. Ob diese Sequenzierung klüger ist, entscheidet sich nicht in Pressekonferenzen, sondern auf den Korridoren, an den Übergängen, in den Krankenhäusern. (trumpwhitehouse.archives.gov)
Realismus gehört zur Nüchternheit: Schon heute melden Beobachter, dass Militärschläge nicht völlig ausgesetzt sind, dass Misstrauen auf beiden Seiten jede Unterschrift schwer macht und dass Maximalforderungen (z. B. vollständige Entwaffnung vs. vollständiger Rückzug) die Verhandlungen am Glasrand festhalten. Und doch – wer am Jahrestag nur sagt: „Das klappt nie“, arbeitet ungewollt am Denkmal der Hoffnungslosigkeit mit. Politik braucht Anker: messbare Schritte (Hostage-Release, Korridor-Öffnungen, lokal überprüfbare Pausen). Jeder gelungene Schritt macht den nächsten weniger unwahrscheinlich. (Reuters)
Was heißt das für uns – jenseits der Schlagzeile?
- Ethische Zweifachbindung: Wir können den 7. Oktober als Terror benennen und uns zugleich verpflichten, ziviles Leid in Gaza zu lindern. Das ist keine „Beidseitigkeit“, sondern Zivilisationspflege.
- Wahrheit in Schichten: Nicht jede Zahl in der Timeline hält; aber Kerne sind solide – Opferzahlen in Israel, die anhaltende Geiselhaft, die dokumentierte Not in Gaza. Wer debattiert, sollte Quellen nennen und Kausalitäten sauber trennen.
- Prüfrahmen statt Parolen: Wenn ein Plan kommt (dieser oder ein nächster), prüfen wir Reihenfolge, Überprüfbarkeit und Rückfallebenen. Papier ist nicht Frieden. Aber kluges Papier spart Leben.
Man kann, wenn man will, zynisch sein. Man kann auch sagen: Vielleicht ist genau am Jahrestag der Moment, an dem wir die Stimmen senken und die Maßstäbe heben. Wer den 7. Oktober begreift, weiß: Ohne Geiseln heim, kein Morgen. Wer Gaza sieht, weiß: Ohne Hilfe rein, kein Morgen. Zwischen diesen beiden Sätzen spannt sich die Brücke, die Politik zu bauen hat – mit Stahl aus Recht und Beton aus Vertrauen, nicht aus Schlagworten.
Und wir? Wir können erinnern, ohne zu versteinern. Wir können streiten, ohne zu verrohen. Wir können prüfen, ohne zu zersetzen. Ich wünsche mir, dass genau das unser Ton wird, wenn wir in den nächsten Wochen wieder Nachrichten lesen, Karten sehen, Gerüchte hören. Vielleicht ist die beste Ehrerbietung an die Toten dies: die Lebenden zu schützen – mit offenen Augen, offenen Quellen, offenem Herz.
Hinweis/Quellen: Überblick zum 7. Oktober und zur Geiselzahl: Britannica, Gov.il/AJC. Aktuelle Berichte zu den Ägypten-Gesprächen und zum „Trump-Plan“: Reuters, CBS, PBS; Einordnung des Plans von 2020: Archivdokument/Analysen. (Auswahl siehe Quellenangaben der jeweiligen Medienberichte.) (Encyclopedia Britannica)
Zum Weiterlesen – „Verlorene Wahrheiten“ von Rami David:
Ein kompaktes Sachbuch, das Begriffe klärt, Mythen prüft und einen Prüfrahmen für Nachrichten und Debatten anbietet. Für alle mit wenig Zeit und vielen Fragen. (Kindle & Taschenbuch.) Leise fängt es an.

