Kaum ein Begriff hat in der Diskussion um den Nahostkonflikt so viel Gewicht – und so viel Unschärfe – wie der Begriff des „palästinensischen Volkes“. Gibt es dieses Volk überhaupt? Und wenn ja, seit wann? Oder ist es – wie Kritiker behaupten – eine politische Erfindung des 20. Jahrhunderts? Die Antwort liegt, wie so oft in der Region, zwischen historischen Fakten und moderner Identitätsbildung.
Tatsächlich tauchte der Begriff „Palästinenser“ in seiner heutigen ethnopolitischen Bedeutung erst in den 1960er Jahren auf. Der PLO-Gründer Jassir Arafat war einer der ersten, der diesen Begriff strategisch auflud: als Sammelbezeichnung für arabische Bewohner des ehemaligen britischen Mandatsgebiets Palästina, die nicht israelisch oder jordanisch sein wollten. Zuvor verstand man unter „Palästinenser“ eher eine geografische Herkunftsbezeichnung – für Juden, Christen und Muslime gleichermaßen. So trugen auch jüdische Bewohner vor 1948 britische Pässe mit der Aufschrift „Palestinian“.
Die arabische Bevölkerung der Region hatte sich selbst lange Zeit nicht als eigenständiges Volk gesehen, sondern als Teil der größeren arabischen oder muslimischen Welt. Viele Familien in Gaza, Jaffa, Jerusalem oder Nablus stammten ursprünglich aus Ägypten, Syrien oder dem heutigen Jordanien. Eine nationale Eigenidentifikation im westlichen Sinne entwickelte sich – wenn überhaupt – erst durch die Erfahrung von Verlust, Besatzung und Konfrontation mit dem zionistischen Projekt. In gewisser Weise war der Konflikt mit Israel der Geburtshelfer eines palästinensischen Nationalbewusstseins.
Völker sind keine biologischen Konstanten. Identität entsteht durch Erfahrung, Symbolik – und Anerkennung.
Wenn das so wäre, müsste man den Status der Schweizer infrage stellen – ein mehrsprachiger, historisch junger Bundesstaat ohne ethnische Einheit, aber mit starker kollektiver Identität. Oder der Österreicher: Streng genommen deutschsprachig, kulturell nahe verwandt, aber mit völlig eigener Staatsidentität. Wer einen Österreicher heute als Deutschen bezeichnet, riskiert durchaus gereizte Reaktionen – selbst wenn er genealogisch nicht ganz falsch liegt.
So ist es auch mit den Palästinensern. Mag ihre kollektive Identität jung und politisch aufgeladen sein – sie ist dennoch real. Wer sich selbst als Palästinenser versteht, wer unter diesem Begriff lebt, leidet, kämpft und hofft, der existiert nicht weniger als andere Völker. Die nationale Identität entsteht nicht allein aus historischen Dokumenten, sondern auch aus gemeinsamen Erfahrungen, Mythen, Sprache, Symbolen und – nicht zuletzt – aus der Anerkennung durch andere.
Das bedeutet allerdings nicht, dass der palästinensische Volksbegriff über jeder Kritik steht. Die historische Tiefe, die andere Nationen beanspruchen können, fehlt hier weitgehend. Und die Verwendung des Begriffs in politischen Zusammenhängen – etwa zur Ableitung historischer Gebietsansprüche oder zur Leugnung jüdischer Geschichte – muss kritisch betrachtet werden.
Doch am Ende bleibt: Wenn eine Gemeinschaft sich selbst als Volk definiert, wenn sie über Generationen hinweg ihre Identität behauptet, verteidigt und weiterträgt, dann verdient sie Respekt. Und Aufmerksamkeit. Auch wenn sie einst vielleicht „erfunden“ wurde.

